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Let’s re-invent education

Das Vorliegende ist ein Plädoyer für eine kritische Selbstvergewisserung der Wissenschaften zu Bildung und Erziehung. Deren Ausgangspunkt ist – oder besser: sollte sein – die Erziehungs- und Bildungsfähigkeit und -bedürftigkeit der Menschen. Wie und wer Menschen sind und werden, entscheidet sich durch die jeweiligen Lebensbedingungen und deren Reflexion und Erweiterung in organisierten Bildungsprozessen. Was diese zu bewirken in der Lage sind, hängt davon ab, welchem Konzept sie folgen und was dessen praktische Konsequenzen sind. Hier gilt:

Jeder erfährt nur, was er versucht

In Zeiten, in denen viele die ‚Empirische Bildungsfor­schung’ als die ‚eigentliche’ Wissenschaft zu Erziehungs- und Bildungsphänomenen und -systemen ansehen, ist es nützlich, daran zu erinnern, als wie wenig sachgerecht es eingeschätzt werden muss, wenn das praktisch Erfahr- und Messbare für das theoretisch und praktisch Mögliche in Bildungsprozessen gehalten zu werden sich anschickt. In den Worten von Johann Friedrich Herbart, einem der Gründungsväter der Pädagogik als Wissenschaft gilt für das Programm dieser Wissenschaft:

 „Dagegen ist denn aber auch schon bis zur Ermüdung oft und weitläufig bewiesen, auseinandergesetzt und wiederholt, daß bloße Praxis eigentlich nur Schlendrian und eine höchst beschränkte, nichts entscheidende Erfahrung gäbe, daß erst die Theorie lehren müsse, wie man durch Versuch und Beobachtung sich bei der Natur zu erkundigen habe, wenn man ihr bestimmte Antworten entlocken wolle. Dies gilt denn auch im vollsten Maße von der pädagogischen Praxis. Die Tätigkeit des Erziehers geht hier unaufhörlich fort; auch wider seinen Willen wirkt er gut oder schlecht, oder er versäumt zum wenigsten, was er hätte wirken können und ebenso unaufhörlich kehrt die Rückwirkung, kehrt der Erfolg seines Handelns zu ihm wieder, aber ohne ihm zu zeigen, was geschehen wäre, wenn er anders gehandelt, welchen Erfolg er gehabt hätte, wenn er weiser und kräftiger verfahren wäre, wenn er pädagogische Mittel, deren Möglichkeit ihm vielleicht nur nicht träumte, in seiner Gewalt gehabt hätte. Von allem diesem weiß seine Erfahrung nichts; er erfährt nur sich, nur sein Verhältnis zu den Menschen, nur das Mißlingen seiner Pläne ohne Aufdeckung der Grundfehler, nur das Gelingen seiner Methode ohne Vergleichung mit den vielleicht weit rascheren und schöneren Fortschritten besserer Methoden“ (Herbart (1802)1964-1965, S. 125/126).

Warum man das praktisch Erfahr- und Messbare nicht für das theoretisch und praktisch Mögliche halten sollte

In den Worten von Herbart klingt diese Warnung so: „So kann es geschehen, daß ein grauer Schulmann noch am Ende seiner Tage, ja das eine ganze Generation und Reihen von Generationen von Lehrern, die immer in gleichen oder in wenig abweichenden Geleisen neben- und hintereinander fortgehn, nichts von dem ahnten, was ein junger Anfänger in der ersten Stunde durch einen glücklichen Wurf, durch ein richtig berechnetes Experiment sogleich und in voller Bestimmtheit erfährt. Ja es kann nicht nur so kommen, sondern das begibt sich zuverlässig.

Jede Nation hat ihren Nationalkreis und noch weit bestimmter jedes Zeitalter seinen Zeitkreis, worin der Pädagog so gut wie jedes andere Individuum mit all seinen Ideen, Erfindungen, Versuchen und daraus hervorgehenden Erfahrungen eingeschlossen ist. Andere Zeiten erfahren etwas anderes, weil sie etwas anderes tun; und es bleibt eine ewige Wahrheit, daß jede Erfahrungssphäre ohne ein Prinzip a priori nicht nur von absoluter Vollständigkeit nie reden dürfe, sondern auch nie nur ungefähr den Grad ihrer Annäherung an diese Vollständigkeit angeben könne.“ (Herbart (1802)1964-1965, S. 125/126).

Die Bedingungen für entfaltende Bildungs- und Erziehungsprozesse neu in den Blick zu nehmen und sie, mit dem verfügbaren menschen- und erziehungswissenschaftlichen Klärungswissen ausgestattet, intelligent zu konfigurieren, kann und wird bedeuten, für Erziehung und Bildung neue Möglichkeitsräume zu schaffen.
To re-invent education meint dann: Bildung neu und wieder zu erfinden als das, was sie eigentlich – seit der Aufklärung – sein sollte: Das Angebot von Räumen, Aktions- und Bildungsmöglichkeiten sowie von professioneller Begleitung, das Menschen dazu ermutigen und befähigen kann, erwachsen zu werden, und das heißt, von ihrer Freiheit und Selbstbestimmungsmöglichkeit aktiv Gebrauch zu machen und entsprechend dadurch allen sich andienenden und Gehorsam einfordernden ‚Göttern‘ zu entwachsen und selbst Verantwortung zu übernehmen.

Wie genau das wissen­schaftsbasiert gehen kann, das gilt es heute mehr denn je gemeinsam zu (er-)finden und praktisch umzusetzen ….

Literatur:

Herbart, Johann Friedrich (1802): Die ersten Vorlesungen über Pädagogik. In: Ders.: Pädagogische Schriften. Hg. von Walter Asmus. 3 Bände. Düsseldorf, München 1964-1965. Bd. 1 S. 121-131